Pressemitteilung Sachverständigenrat

Vorsitzender des Sachverständigenrats stellt Informationspapier der Geschäftsstelle des SVR vor: “Qualifikation und Migration: Potenziale und Personalpolitik in der ‘Firma’ Deutschland”

‘Handeln in der Krise für die Zeit danach’: SVR-Vorsitzender sieht die Krise als Chance zu migrationspolitischer Weichenstellung

Berlin, 26.05.2009. Der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Prof. Dr. Klaus J. Bade, hat heute in Berlin ein Informationspapier der Geschäftsstelle des SVR über “personalpolitische Potenziale in der ‘Firma’ Deutschland” vorgestellt. Äußerer Anlass war die Eröffnung der neuen Räumlichkeiten der Geschäftsstelle, die dem Sachverständigenrat zuarbeitet. Im Zentrum der vorgestellten Analyse steht die Frage, inwieweit sich das Qualifikationsniveau der Erwerbsbevölkerung in Deutschland durch Abwanderung, Zuwanderung und Integration verändert, verbunden mit exemplarischen Handlungsempfehlungen für Migrations- und Integrationspolitik.

“Die ‘Firma’ Deutschland hat Personalprobleme”, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Prof. Dr. Klaus J. Bade: Jährlich wandern zehntausende von oft gut qualifizierten Deutschen im besten Erwerbsalter ab, nur ein Teil von ihnen kehrt zurück. Seit 2003 hat Deutschland (unter Berücksichtigung der Rückwanderungen) fast 180.000 Staatsangehörige an andere OECD-Staaten abgegeben.

Besonders auffällig und folgenreich ist die Entwicklung bei den Medizinern: Allein 2008 sind über 3.000 vorwiegend in Deutschland ausgebildete Ärzte ins Ausland abgewandert. Nach einer von der SVR GmbH in Auftrag gegebenen Studie des Münchner ifo-Instituts betragen die fiskalischen Folgekosten bei einem typischen Karriereverlauf über eine Million Euro pro Arzt. Unter der vorsichtigen Annahme, dass nur ein Drittel der abwandernden Ärzte dauerhaft im Ausland bleibt, entgehen dem deutschen Staat allein für diese Abwanderergruppe des Jahres 2008 – ohne Berücksichtigung der Ausbildungskosten – hochgerechnet knapp 1,1 Milliarden Euro.

Durch ausländische Zuwanderungen wird der qualitative Verlust durch Abwanderungen nicht kompensiert, im Gegenteil: Während das Qualifikationsniveau der Abwanderung deutlich über dem der Erwerbsbevölkerung in Deutschland zu liegen scheint, liegt das der ausländischen Zuwanderung unter diesem Niveau. Nur in Österreich und Italien ist der Anteil Hochqualifizierter an der Zuwandererbevölkerung geringer als in Deutschland. Schon diese qualitative Dynamik von Ab- und Zuwanderung kann auf Dauer die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beeinträchtigen.

Damit nicht genug: Gegenüber der oft aus bildungsfernen Milieus stammenden älteren Zuwandererbevölkerung, die seinerzeit das Wirtschaftswunder entscheidend mitgetragen hat, blieben Qualifikationsangebote aus. Und das hochselektive Schulsystem trug zur Vererbung der sozialen Startnachteile bei, bis heute ablesbar an hohen Arbeitslosenzahlen und Transferkosten in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Die wohlfahrtsstaatliche Integrationsregie wiederum schaltete, wie in anderen europäischen Staaten, die Selbstauslesekraft von Migrationsprozessen ab, nach der in marktbasierten Integrationssystemen flexibel reagieren oder zurückkehren bzw. weiterziehen muss, wer wirtschaftlich nicht auf eigenen Beinen stehen kann.

Steuerungssysteme zur Förderung der Zuwanderung von Hochqualifizierten fehlten jahrzehntelang. Zuwanderer schließlich, die tatsächlich in Deutschland nachgefragte Qualifikationen mitbrachten, konnten diese oft nicht einsetzen, weil ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse und beruflichen Erfahrungen nicht anerkannt wurden, so dass sie weit unter ihrem Qualifikationsniveau beschäftigt wurden oder gar arbeitslos blieben. Und aus den Reihen der aus der älteren Einwandererbevölkerung, trotz aller Hindernisse, nachgewachsenen neuen Elite an den deutschen Universitäten tendieren, Umfragen zufolge, viele dahin, Deutschland nach Abschluss ihres Studiums zu verlassen. In diesem Teufelskreis konnten Zuwanderung und Integration über Jahrzehnte hinweg ihr bereicherndes Potenzial nur bedingt entfalten. Heute trägt das Qualifikationsgefälle zwischen Abwanderung und Zuwanderung der Tendenz nach sogar zur Dequalifikation des Erwerbspotenzials in Deutschland bei.

Die Politik hat diese Entwicklung, auch nach ihrer kritischen Selbsteinschätzung, lange Zeit “verschlafen”, so Bade. Das habe sich erst in den letzten Jahren deutlich geändert: “Migrations- und integrationspolitisch ist im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auf staatlicher Seite mehr in Gang gebracht worden als in den vier Jahrzehnten zuvor, ganz abgesehen von Stiftungen und Mittlerorganisationen, der Vielfalt von ehrenamtlichen Initiativen der Bürgergesellschaft und dem eigenständigen Engagement zahlloser Kommunen.” Das reiche von der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000 und dem Zuwanderungsgesetz 2005 über den Ausbau der zentralen Migrations- und Integrationsverwaltung mit ihren Kursangeboten, über Integrationsgipfel und Islamkonferenz seit 2006 sowie eine schon unübersichtliche Vielfalt der verschiedensten Integrations- und Partizipationshilfen bis hin zur Allianz” zur Sicherung der Fachkräftebasis 2009.

All dies, so Bade, sei wichtig und nötig, aber nicht genug, um die “schleichende Dequalifizierung der Belegschaft in der ‘Firma’ Deutschland” umzukehren durch eine “verstärkte Entfaltung der bereichernden Kräfte von Zuwanderung und Integration”. Gerade in der Krise müssten nicht nur die Anstrengungen zur nachholenden Qualifikations- und damit Partizipationsförderung verstärkt, sondern auch die Steuerungsinstrumente für Zuwanderung konzeptionell reformiert werden. Nur so sei zu verhindern, “dass uns am noch nicht absehbaren Ende der Krise die Probleme verschärft einholen, die schon an ihrem Vorabend das wirtschaftliche Wachstum gebremst haben”. Das gelte vor allem für den Mangel an hochqualifizierten Fachkräften. Die selbstgefällige Rede, wie gut es angesichts der Krise doch sei, dass man nicht zu viele davon ins Land geholt habe, bezeichnete Bade als “populistische Augenwischerei”.

Zur Gegensteuerung nannte Bade sieben “exemplarische Handlungsoptionen”:

    1. Ein flexibles Steuerungssystem für hochqualifizierte Zuwanderung, bestehend aus der Kombination eines kriteriengestützten Punktesystems mit einer arbeitsmarktorientierten Engpassdiagnose.
    2. Transparente Reglements zur Werbung um hochqualifizierte Fachkräfte mit deutlichen Willkommenssignalen aus Deutschland.
    3. Eine Beteiligung von in Abstimmung mit der deutschen Migrationsverwaltung arbeitenden Agenturen an der Gewinnung von Hochqualifizierten und eine für diese Zwecke erweiterte Beratungskompetenz deutscher Konsulate im Ausland, wie dies zum Teil auch bei der ausländischen Werbung um entsprechende Kräfte in Deutschland zu beobachten ist.
    4. Verstärkte Bemühungen um die Bindung von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen, im Falle ihrer Abwanderung die Option zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt in Deutschland, und eine intensivierte Werbung für ein Studium in Deutschland mit Bleibeoption.
    5. Eine gesetzliche Grundlage zur bundesweiten Erleichterung der Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und beruflichen Erfahrungen, ohne eine Senkung der erforderlichen Standards, aber mit Angeboten für entsprechende Nachschulungen und Qualifikationsanpassungen.
    6. Ein struktureller Umbau des Bildungssystems, verbunden mit einer Neujustierung von Auswahl, Qualifikation und Position der Lehrkräfte, um die nach wie vor wirkende Vererbung der sozialen Startnachteile und die damit einhergehende “Verschleuderung von Humankapital” zu beenden sowie flexiblere und transparentere Weiterbildungsangebote zur Begrenzung der schon eingetretenen Folgeschäden durch nachholende Integrations- und Partizipationsförderung. Andernfalls drohe eine “fortschreitende soziale Polarisierung, die sich auch in soziale Spannungen umsetzen” könnte.
    7. Die “vielbeschworene Kultur des Hinsehens” forderte Bade auch für einen “selbstkritischen Blick auf die Migrationsmotive”, verbunden mit der “Bereitschaft zur Revision der Bedingungen, die in Deutschland steigende Abwanderungen und niedrige Zuwanderungen von Hochqualifizierten bewirken”.

Bade zitierte abschließend Bundeskanzlerin Merkel, die zuletzt bei der Werbung um mehr Einbürgerungsbereitschaft angesichts sinkender Einbürgerungszahlen gesagt hatte, dass Zuwanderung “immer auch eine Bereicherung” sei. Bade: “Das ist richtig – aber nur dann, wenn diese wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Bereicherung so begleitet wird, dass sie sich zum Nutzen aller entfalten kann.”

Das Informationspapier “Qualifikation und Migration: Potenziale und Personalpolitik in der ‘Firma’ Deutschland” finden Sie hier zum Download:
090528_druckfassung_qualifikation-und-migration

Die Pressemitteilung können Sie hier herunterladen:
PM_Qualifikation-und-Migration

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