Presseinformation – Sachverständigenrat

Systemrelevant: Der Beitrag von Zugewanderten im Gesundheitswesen

Ein funktionierendes Gesundheitssystem ist maßgeblich für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Im Jahresgutachten 2022 stellt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) fest, dass Migrantinnen und Migranten einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Gesundheitssystem leisten. Um eine chancengleiche Gesundheitsversorgung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sicherzustellen, muss das Gesundheitswesen diversitätssensibler gestaltet werden.

Berlin, 10. Mai 2022. Fachkräfte mit Zuwanderungsgeschichte leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesundheitsversorgung in Deutschland. Bereits jetzt ist etwa jede bzw. jeder sechste Erwerbstätige in den Gesundheits- und Pflegeberufen im Ausland geboren. Mehr als ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte hat einen Migrationshintergrund. Tendenz deutlich steigend. „Zugewanderte sind auf allen Ebenen des Gesundheitswesens tätig – zum Beispiel im ärztlichen Dienst oder im Bereich der Alten- und Krankenpflege. Ohne sie stünde das deutsche Gesundheitssystem vor einem Kollaps. Das hat spätestens die Corona-Pandemie gezeigt“, erklärt Prof. Dr. Petra Bendel, Vorsitzende des SVR, anlässlich der Vorstellung des Jahresgutachtens 2022. „Angesichts des demographischen Wandels wird der Bedarf an Fachkräften weiter steigen, Zugangsmöglichkeiten müssen folglich vereinfacht und nachhaltig gestaltet werden.“

Anerkennung beschleunigen; Nachqualifizierung erleichtern; fair rekrutieren

Im Bereich der reglementierten Berufe ist für ausländische Fachkräfte, die in Deutschland arbeiten wollen, ein Gleichwertigkeitsnachweis erforderlich. „Zuwandernde müssen darlegen, dass ihre Qualifikationen deutschen Standards entsprechen. Für Gesundheits- und Pflegeberufe ist dies enorm wichtig. Es geht um den Schutz von Patientinnen und Patienten,“ sagt Prof. Dr. Daniel Thym, stellvertretender Vorsitzender des SVR. „Entscheidend für den Erfolg von Anwerbestrategien ist deshalb, wie die Anerkennungsverfahren in der Praxis umgesetzt werden. Zuwanderung muss dabei als Gesamtprozess verstanden werden, bei dem die einzelnen Schritte wirksam ineinandergreifen. Hier sehen wir noch viel Nachbesserungsbedarf, die Verfahren dauern teilweise lange und es ist für die Betroffenen schwer zu verstehen, wer wofür zuständig ist. Prozesse müssen beschleunigt, weiter vereinfacht und einheitlicher gestaltet, die beteiligten Behörden – darunter deutsche Konsulate im Ausland, Ausländer- und Anerkennungsbehörden sowie die Bundesagentur für Arbeit – stärker verzahnt werden“, so Thym.

Der SVR empfiehlt zudem, die Zuständigkeit für die Anerkennung im Gesundheitsbereich innerhalb der Länder zu bündeln und die Potenziale einer digitalisierten Verwaltung auszuschöpfen. Erforderliche Nachqualifizierungsmaßnahmen sollten zügig erfolgen können. Dafür müssen modularisierte Anpassungslehrgänge ausgebaut und vermehrt mit (fach-)sprachlichen Komponenten verbunden werden. Anwerbeprozesse sollten dabei so transparent wie möglich gestaltet werden. „Das bedeutet, dass Anzuwerbende vorab umfassend informiert und anschließend bei den behördlichen Verfahren und von den Unternehmen unterstützt werden“, ergänzt Prof. Thym. Im Gesundheitsbereich ist besonders entscheidend, dass Rekrutierung nicht auf Kosten der Gesundheitsversorgung im Herkunftsland geht. „Über bilaterale Vereinbarungen sollte sichergestellt werden, dass beide Länder von der Migration profitieren. Besonders befürworten wir Ausbildungspartnerschaften, die den Kapazitätsaufbau auch im Herkunftsland fördern“, so die SVR-Vorsitzende Bendel.

Zuwanderung in die Ausbildung und betriebliche Integration gezielt fördern

Um den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen langfristig zu sichern, empfiehlt der SVR stärker für Zuwanderung in die Ausbildung zu werben. „Das hat viele Vorteile: Es werden nicht fertig im Ausland ausgebildete Fachkräfte abgeworben; zugleich entfallen langwierige Anerkennungsverfahren und Transferprobleme aufgrund unterschiedlicher Berufsbilder und Ausbildungsinhalte. Durch den Kontakt zu anderen Auszubildenden können die Zugewanderten schneller und besser Deutsch lernen. Das erleichtert die soziale und damit auch die betriebliche Integration. Schließlich sollen ausländische Fachkräfte nicht nur kommen, sie sollen auch bleiben wollen“, erklärt die SVR-Vorsitzende Bendel. Unternehmen, die Mitarbeitende aus dem Ausland rekrutieren, sollten ein Integrationskonzept entwickeln und Ansprechpersonen benennen, die den Zuwandernden zur Seite stehen.

Um Fachkräfte langfristig zu halten, müssen nach Ansicht des SVR die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und besonders in der Pflege grundlegend verbessert werden. „Zuwanderung allein kann den strukturellen Fachkräftemangel im Gesundheitswesen nicht lösen“, so Prof. Bendel. „Wir müssen auch die Potenziale im Inland ausschöpfen und mehr Menschen, darunter auch diejenigen mit eigener oder familiärer Zuwanderungsgeschichte, für eine Ausbildung in Gesundheits- und Pflegeberufen gewinnen. Dafür müssen sich die Arbeitsbedingungen bessern. Entscheidend ist zudem eine diversitätssensible Gestaltung unseres Gesundheitssystems. Davon profitieren alle Menschen in Deutschland.“

Diversitätssensible Gesundheitsversorgung kommt allen zugute

Die gesundheitliche Lage eines Menschen wird maßgeblich von sozioökonomischen Faktoren bestimmt. Dennoch kann sich das Merkmal ‚Migrationshintergrund‘ nachteilig auswirken. So befinden sich Menschen mit Migrationshintergrund statistisch gesehen häufiger in einer ungünstigen sozioökonomischen Lage. Das Jahresgutachten identifiziert weitere Hürden, die einen chancengleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen erschweren – zum Beispiel Sprachbarrieren, fehlende Gesundheitskompetenz und Diskriminierung. Hier müssen die Rahmenbedingungen angepasst werden, damit die Gesundheitsversorgung diversitätssensibel gestaltet werden kann. Dazu haben manche Zugewanderte nur einen eingeschränkten Zugang zu öffentlich finanzierten Gesundheitsleistungen. „Zwar sind die allermeisten Menschen in Deutschland krankenversichert. Dennoch gibt es einige Versorgungslücken, etwa für EU-Bürgerinnen und -Bürger in prekären Jobs. Hier können Clearingstellen helfen. Bei Asylsuchenden und ausreisepflichtigen Personen haben Gesundheitskarten viele Vorteile: Sie sind unbürokratischer, ändern aber nichts an der Leistungshöhe, die durch das Asylbewerberleistungsgesetz definiert ist“, sagt der stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Thym.

Auch irregulär aufhältigen Migrantinnen und Migranten stehen Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu. In der Praxis nutzen sie diese aber oft nicht, da sie eine Ausweisung befürchten. Der Gesetzgeber könnte durch eine Änderung von § 87 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz klarstellen, dass der Gesundheitsbereich auch jenseits medizinischer Notfälle von der Übermittlungspflicht gegenüber Ausländerbehörden ausgenommen ist.

Weitere Themen im SVR-Jahresgutachten 2022

  • Flucht und Trauma: Psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden
  • Risikofaktor Sammelunterkunft: Medizinische Versorgung in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen
  • Flucht und Trauma: Psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden

Das SVR-Jahresgutachten 2022 können Sie herunterladen, wenn Sie diesem Link folgen.

Das Faktenpapier zum Jahresgutachten steht unter diesem Link zur Verfügung.

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Ihre Ansprechpartnerin für Medienanfragen
Meike Giordono-Scholz
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Mobiltelefon: 0170 635 7164
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Petra Bendel (Vorsitzende), Prof. Dr. Daniel Thym (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger und Prof. Dr. Hans Vorländer.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de