Einbürgerung: Ein wichtiger Weg zu voller politischer Teilhabe

Ein Beitrag von Prof. Dr. Petra Bendel und Prof. Dr. Daniel Thym

Vielfalt gehört – auch unabhängig von Migration – zur Gesellschaft und bereichert diese in mehrfacher Hinsicht. Voraussetzung ist, dass alle Menschen an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben können und diese Teilhabechance auch wahrnehmen. Das gilt auch für das Wahlrecht.

2021 war ein besonderes Jahr: In mehreren Bundesländern wurde ein neuer Landtag gewählt, im September ein neuer Bundestag. Dies nahm der Sachverständigenrat für Integration und Migration zum Anlass, im SVR-Jahresgutachten 2021 zu analysieren, wie die gesellschaftlichen Institutionen in verschiedenen Bereichen, darunter auch der Bereich der Politik, auf Vielfalt reagieren. Welche Möglichkeiten haben Menschen mit Migrationsgeschichte und vor welchen Herausforderungen stehen sie, wenn sie in unserer Gesellschaft mitentscheiden und mitgestalten wollen?

In Deutschland steht es allen Einwohnerinnen und Einwohnern grundsätzlich frei, sich politisch einzubringen. Sie können sich in Vereinen und Interessengruppen engagieren, auf Demonstrationen ihre Meinung kundtun und über Unterschriftensammlungen Forderungen ausdrücken. Diese Rechte stehen in Deutschland heutzutage allen Menschen offen. So können unabhängig von der Staatsangehörigkeit politische Entscheidungen beeinflusst werden. Allerdings gibt es Grenzen: Das Wahlrecht setzt – wie in eigentlich allen Einwanderungsländern der Welt – die Staatsangehörigkeit voraus. Die Einbürgerung ist deshalb ein wichtiger Weg zu voller politischer Teilhabe.

Einbürgerungspotenzial besser ausschöpfen

In Deutschland sind die Einbürgerungszahlen jedoch vergleichsweise niedrig. 2019 hatten 12,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands nicht die deutsche Staatsangehörigkeit – das sind etwa 8,7 Millionen Menschen. Das ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial lag bei lediglich 2,5 Prozent.

Deshalb empfiehlt der SVR, bestehende Initiativen auszubauen, mit deren Hilfe das Einbürgerungspotenzial besser ausgeschöpft werden kann. Er plädiert zudem für eine Optimierung des Staatsangehörigkeitsrechts etwa durch die grundsätzliche Zulassung von Mehrstaatigkeit und setzt sich für eine „Turboeinbürgerung“ ein, in deren Rahmen die nachzuweisende Mindestaufenthaltszeit bei Einbürgerung in Fällen einer besonders guten Integration verkürzt werden kann. Auf diese Empfehlungen gehen wir im Folgenden ein.

Die Koalition aus SPD, Grüne und FDP hat diese Empfehlungen im Rahmen ihres Koalitionsvertrags aufgenommen und sich für die zwanzigste Legislaturperiode ehrgeizige Ziele gesetzt, darunter einige Änderungen am Staatsangehörigkeitsrecht, die die Reformen der letzten 20 Jahre fortschreiben. Eine weitere Liberalisierung soll u. a. dadurch stattfinden, dass die Mehrfachstaatsangehörigkeit generell ermöglicht wird und ein deutscher Pass, soweit die übrigen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt sind, schon nach fünf statt bislang acht Jahren rechtmäßigen Aufenthalts beantragt werden kann.

Doch selbst wenn das Gesetz verabschiedet wird, zeigt die geringe Ausschöpfung des Einbürgerungspotenzials, dass nicht alle Menschen, die berechtigt wären, von den gesetzlichen Möglichkeiten Gebrauch machen. Es gilt also, auch die richtigen Strukturen zu schaffen und nötige Investitionen vorzunehmen, damit die Einbürgerungsmöglichkeit auch tatsächlich genutzt wird.

Doppelpass mit Generationenschnitt

Grundsätzlich müssen Ausländerinnen und Ausländer, wenn sie sich in Deutschland einbürgern lassen wollen, bislang die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes aufgeben. Für viele Zugewanderte ist das ein Dilemma: Sie wollen gerne Deutsche werden, können sich aber den Verlust ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit bspw. aus wirtschaftlichen oder auch persönlichen oder familiären Gründen nicht vorstellen. Er könnte zu Einreisebeschränkungen für das Herkunftsland und damit Problemen beim Besuch von Angehörigen vor Ort oder zum Verlust der Erbfähigkeit führen. Der SVR befürwortet deshalb schon seit vielen Jahren eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts und plädiert dabei auch für die Einführung eines Doppelpasses mit Generationenschnitt.

Die Idee dazu hat der Sachverständigenrat vor mehreren Jahren schon auf seine Anwendbarkeit in Deutschland geprüft und Vorschläge zu dessen Umsetzung gemacht. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ist derzeit darauf ausgelegt, die doppelte Staatsangehörigkeit zu vermeiden. Stattdessen votiert der SVR dafür, doppelte Staatsbürgerschaft bei Einbürgerung generell zuzulassen. Schon heute wird in vielen Konstellationen die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiert, etwa bei der Einbürgerung von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern oder wenn die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt in Deutschland erworben wird. Auch wenn eine Aufgabe der ausländischen Staatsangehörigkeit nicht möglich ist, weil der Herkunftsstaat nicht aus der alten Staatsangehörigkeit entlässt oder die Aufgabe nicht zumutbar ist, wird auf dieses Erfordernis verzichtet. Durch einen „Generationenschnitt“ soll dann Überinklusion verhindert werden. Menschen, die keinen Bezug mehr zum Herkunftsland ihrer Vorfahren haben, sollen dort die politische Willensbildung nicht dauerhaft beeinflussen können. Das Argument lautet: Wer nicht selbst von einem Gesetz betroffen ist, soll auch nicht darüber mitentscheiden dürfen.

Der SVR befürwortet seit vielen Jahren eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts und die Einführung eines Doppelpasses mit Generationenschnitt.

Den Anforderungen einer modernen Einwanderungsgesellschaft gerecht werden

Mit dem Modell „Doppelpass mit Generationenschnitt“ wird das Staatsangehörigkeitsrecht deshalb so weiterentwickelt, dass es den Anforderungen einer globalisierten Welt, in der Menschen grenzüberschreitend Beziehungen pflegen, gerecht wird. Die doppelte Staatsangehörigkeit würde demnach bei der Einbürgerung zunächst grundsätzlich akzeptiert, die Weitergabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit in der nächsten oder übernächsten Generation dann aber unterbrochen – dies ist dann der sogenannte Generationenschnitt. Die Idee geht auch von dem Befund aus, dass die Zugehörigkeit zum Herkunftsland in der Regel bei der selbst wandernden Generation noch stark ist und ggf. auch bei der Generation der in Deutschland geborenen Kinder. Diese Verbundenheit nimmt allerdings in der Regel über Generationen hinweg ab.

Dass der „Doppelpass mit Generationenschnitt“ im Koalitionsvertrag nun als Ziel für die aktuelle Legislaturperiode festgeschrieben wurde und sogar parteiübergreifend auf Zustimmung stößt, ist ein bedeutender Fortschritt. Es zeigt: Politikberatung kann helfen, parteiübergreifende Reformüberlegungen in Gang zu bringen.

Um das Modell künftig in die Praxis umsetzen zu können, sind Abkommen mit den jeweiligen Herkunftsstaaten nötig. Dazu könnten Pilotprojekte entwickelt werden. Verschiedene Beispiele etwa aus Lateinamerika haben schon gezeigt, dass völkerrechtliche Verträge im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts möglich sind; eine erfolgreiche Implementierung des Modells erscheint dadurch durchaus realistisch, wenn auch voraussetzungsreich. Deutschland sollte hier gezielt das Gespräch mit wichtigen Herkunftsländern suchen. So könnte zunächst mit einigen EU-Mitgliedstaaten eine Vereinbarung getroffen und damit eine Art „Schengen des Staatsangehörigkeitsrechts“ im kleinen Kreis auf den Weg gebracht werden.

Die SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Petra Bendel und der Stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Daniel Thym im Gespräch.

Turboeinbürgerung einführen

Die grundsätzliche Zulassung von Mehrstaatigkeit allein reicht jedoch nicht aus, um das Einbürgerungspotenzial maßgeblich und dauerhaft zu erhöhen. Die Reduzierung der nachzuweisenden Mindestaufenthaltszeit bei Einbürgerung ist ein weiterer wichtiger Schritt. So sollten sich Zugewanderte, die in Deutschland besonders gut integriert sind, schneller einbürgern lassen dürfen. Gemäß Koalitionsvertrag soll die Einbürgerung in der Regel nach fünf statt bisher acht Jahren möglich sein. Bei besonderen Integrationsleistungen schlägt die Ampelkoalition vor, dass Zugewanderte bereits nach drei Jahren Deutsche werden können. Eine „Turboeinbürgerung“ dieser Art fordert der SVR schon lange, wenn auch mit etwas längeren Fristen. Doch das Ziel ist klar: Es geht darum, Anreize zu schaffen. Zugewanderte mit Lebensmittelpunkt in Deutschland, die wirtschaftlich und sozial besonders gut integriert sind, sehr gut Deutsch sprechen und ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis vorweisen, sollen es bei der Einbürgerung einfacher haben, als dies bisher der Fall ist. Werden die Vorschläge umgesetzt, zählt Deutschland bei der Einbürgerungspolitik künftig zur Avantgarde.

Eine geänderte Gesetzeslage allein reicht allerdings nicht. Auch die praktische Umsetzung will bedacht sein. Dass die Einbürgerungszahlen niedrig sind, liegt u. a. an einem Informationsmangel aufseiten der potenziellen Neubürgerinnen und Neubürger. Die Forschung hat gezeigt, dass manche Einbürgerungsberechtigte gar nicht wissen, dass sie die Voraussetzungen für eine Einbürgerung bereits erfüllen. Andere wiederum schrecken vor den komplizierten Verfahren und langen Antragszeiten zurück. Deshalb regt der SVR an, dass Bund, Länder und Kommunen verstärkt für Einbürgerung werben und über Möglichkeiten und Vorteile einer Einbürgerung informieren. Außerdem sollten die Behörden personell auf ein verstärktes Einbürgerungsgeschehen vorbereitet werden, damit Antragsberechtigte nicht desillusioniert werden.

Werden die Vorschläge umgesetzt, zählt Deutschland bei der Einbürgerungspolitik künftig zur Avantgarde.

Persönliche Ansprache zahlt sich aus

Es gibt bereits zahlreiche erfolgreiche Initiativen, darunter etwa Briefaktionen. Eine persönliche Ansprache dient als Türöffner: Amtsträgerinnen und Amtsträger aus den jeweils zuständigen Verwaltungsbezirken wenden sich in einem Brief an Ausländerinnen und Ausländer, die schon lange in Deutschland leben, informieren über die Möglichkeit einer Einbürgerung und laden zu einem Beratungsgesprächein. Positive Effekte konnten in einzelnen Ländern und Kommunen schon nachgewiesen werden. Es könnten und sollten mehr werden. Auch die sogenannten Einbürgerungslotsen haben sich als erfolgreich erwiesen. Sie informieren und unterstützen bei Terminanfragen, Behördengängen und nach Bedarf bei besonders komplizierten Rechtsfragen. Vor allem die Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen schafft hier einen guten Zugang zu den unterschiedlichen Communities.

Letztlich erfordert dies einen Gesinnungswandel: Eine Einbürgerung ist auch eine emotionale Entscheidung. Viele Zugewanderte beklagen deshalb, wie der Prozess gestaltet ist. Sie hätten sich gefreut, wenn man sich in Anerkennung ihrer Integrationsleistungen auch um sie bemüht hätte. Aber die deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihnen nicht angeboten; sie mussten sie erwerben und dabei teilweise enorme bürokratische Hürden meistern.

Nach positivem Bescheid geht es mit Termin zum Einbürgerungsamt. Der oder die Einzubürgernde bekennt sich offiziell zu den demokratischen Werten, erhält in der Regel einen Händedruck und eine Urkunde. Dann heißt es: „Herzlichen Glückwunsch. Sie sind jetzt Deutsche.“ Für viele Neubürgerinnen und Neubürger ist dies eine ernüchternde Erfahrung. Manche haben Monate, wenn nicht Jahre auf den Termin hingearbeitet. Deshalb unterstützt der SVR festliche Einbürgerungszeremonien. Dabei erfahren Neubürgerinnen und Neubürger in Deutschland, dass sie erwünscht und willkommen sind – ein wichtiges Zeichen, denn eine Einbürgerung ist ein bedeutender Schritt im Leben eines Menschen sowie seines persönlichen Umfelds. Dies gilt es zu würdigen.

Eine fortschrittliche Einbürgerungspolitik braucht zudem eine zeitgemäße und effiziente Verwaltung: mehr Digitalisierung, mehr Personal sowie eine verstärkte Kooperation der beteiligten Institutionen. Wenn die Behörden langsam arbeiten oder die neuen Optionen nicht genutzt werden, stellt sich schnell Ernüchterung ein und der erhoffte Effekt auf die Einbürgerungsquoten bleibt aus.

Eine fortschrittliche Einbürgerungspolitik braucht eine zeitgemäße und effiziente Verwaltung: mehr Digitalisierung, mehr Personal sowie eine verstärkte Kooperation der beteiligten Institutionen.

Chancengleiche Teilhabe für alle

Deshalb sieht der Sachverständigenrat dringenden Handlungsbedarf. Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland; die Gesellschaft ist vielfältig – ganz unabhängig von Migration. Politische Teilhabe gehört zu den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Um die chancengleiche Teilhabe der Personen zu stärken, die bereits eine Fülle an Integrationsschritten erfolgreich gemeistert haben, gilt es, Einbürgerung stärker zu fördern und die Menschen aktiv dazu einzuladen, die gesetzlichen Möglichkeiten verstärkt zu nutzen.

Vgl. hierzu auch den Beitrag von Dr. Jan Schneider auf Seite 44–49 dieses Jahresberichts.


Info-Box: Kommunales Wahlrecht

Normalfall Diversität? Wie das Einwanderungsland Deutschland mit Vielfalt umgeht

Im Jahresgutachten 2021 gibt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) u. a. Empfehlungen, wie politische Partizipation im Einwanderungsland Deutschland gestärkt werden kann. Dabei beleuchtet er vor allem die Möglichkeiten zur Partizipation über Wahlen und Parteien. Neben der gezielten Förderung von Einbürgerungsinitiativen geht es um die Bedeutung von politischen Parteien sowie Migrantenorganisationen und ‑verbänden für die politische Willensbildung und die Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sowie um den integrationspolitischen Wert einer Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatsangehörige.