Das SVR-Jahresgutachten: Raum für Orientierung und Reflexion

Interview mit Dr. Holger Kolb, Leiter des Bereichs Jahresgutachten in der Geschäftsstelle

Was ist das Ziel der SVR-Jahresgutachten?

Das Jahresgutachten ist ein Urprodukt des SVR. Der SVR bietet damit Politikberatung an und informiert gleichzeitig die Fachöffentlichkeit über Fragestellungen der Integrations- und Migrationspolitik. In fast 15 Jahren SVR-Geschichte ist da eine beachtliche Sammlung zustande gekommen, an der man sehr gut Entwicklungen nachvollziehen kann. Denn nicht nur der SVR hat sich in dieser Zeit verändert und ist mittlerweile institutionell verankert (vgl. dazu auch das Interview mit Prof. Bendel, Seite 12–17). Auch die Diskussion über SVR-relevante Themen hat sich stark weiterentwickelt. Hier schaffen die Jahresgutachten Raum für Orientierung und Reflexion. Das ist für die Politikgestaltung sowie für tagesaktuelle Debatten, die ja teils sehr impulsiv geführt werden, wichtig.

Wie werden die Themen ausgesucht?

Die Sachverständigen entscheiden über die jeweilige Schwerpunktsetzung. Es gibt mehrere Kriterien, die dabei berücksichtigt werden: Zum einen ist es die aktuelle oder absehbare Relevanz eines Themas, zum anderen spielen natürlich auch die Kompetenzen im Sachverständigenrat wie in der Geschäftsstelle eine Rolle. Im Team arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen mit unterschiedlichen Methodenkompetenzen und inhaltlichen Schwerpunkten. Deshalb können wir unterschiedliche Themen betreuen. So haben wir uns 2016 mit der religiösen Vielfalt im Einwanderungsland und mit den institutionellen Antworten auf religiöse Pluralisierung beschäftigt. Im Jahr darauf haben wir uns mit der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa auseinandergesetzt. Seit den Fluchtbewegungen der Jahre 2015 und 2016 hat dieses Thema nicht an Relevanz verloren und das wird wohl auch noch länger so bleiben. 2018 ging es um die politische Steuerung von Migration und Integration; und 2020 stand die Migration in und aus Afrika im Fokus.

Dr. Holger Kolb ist Politikwissenschaftler und seit der Etablierung des Sachverständigenrats 2009 für den SVR tätig. Er leitet den Bereich Jahresgutachten und ist Stellvertreter der Geschäftsführung.

Welchen Mehrwert haben die Jahresgutachten dabei im Vergleich zu anderen, spezifischen oder vielleicht stärker an der Tagesaktualität orientierten Studien?

In den SVR-Jahresgutachten wird bestehendes Wissen zusammengetragen, eingeordnet und bewertet. Dabei fließen die verschiedenen disziplinären Perspektiven des Sachverständigenrats, aber natürlich auch des wissenschaftlichen Stabs in der Geschäftsstelle ein. Es ist außerdem Aufgabe und Anliegen des SVR, soweit möglich, Empfehlungen für politisches Handeln abzuleiten. Die Jahresgutachten bieten dabei einen umfangreichen Forschungsüberblick: Sie sind über 200 Seiten stark – das schreibt sich nicht so schnell. Aber diese vergleichsweise Langsamkeit erlaubt es, einen genauen Blick auf Entwicklungen und Diskussionen zu werfen und festzustellen, wo es noch Wissenslücken gibt. So können Entwicklungen jenseits der medialen Aufgeregtheit betrachtet werden, es gibt Raum, darüber im Kreise des Sachverständigengremiums zu diskutieren, Positionen zu überdenken und auch neu zu entwickeln.

Die Jahresgutachten schaffen Raum für Orientierung und Reflexion. Das ist für die Politikgestaltung sowie für tagesaktuelle Debatten wichtig.

An wen richten sich die Empfehlungen?

In erster Linie richten sie sich an politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger. So nimmt der SVR eine seiner grundlegenden Aufgaben wahr und bietet unabhängige wissenschaftliche Politikberatung an: sachlich, genau und überparteilich. Besonders motivierend aus Sicht des wissenschaftlichen Stabs (und natürlich auch des SVR) ist es, wenn wir damit Wirkung erzielen können – auch wenn es dafür manchmal einen langen Atem braucht.

Zum Beispiel?

Vor der Bundestagswahl hat das SVR-Jahresgutachten 2021 das Thema Diversität in Deutschland thematisiert. Dass Deutschland ein vielfältiges Land ist, wissen wir ja schon länger. Nun wurde noch einmal zusammengetragen, was diese Vielfalt bedeutet und wie wir in Deutschland damit umgehen – etwa auf dem Arbeitsmarkt oder bei der politischen Teilhabe. Umso mehr freuen wir uns deshalb, dass die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag diese Themen aufgegriffen hat. Deutschland ist nun auch offiziell ein Einwanderungsland.

Die Fragen stellte Meike Giordono-Scholz, Kommunikationsmanagerin in der SVR-Geschäftsstelle.