Systemrelevant: Migrantinnen und Migranten als Fachkräfte im deutschen Gesundheitssystem

Ein Beitrag von Prof. Dr. Hans Vorländer

Ein funktionierendes Gesundheitssystem ist maßgeblich für das Wohlergehen einer Gesellschaft – auch in Deutschland. Migrantinnen und Migranten leisten hier einen unverzichtbaren Beitrag. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass ohne sie die Versorgung in Deutschland nicht mehr gewährleistet werden könnte. In seinem Jahresgutachten 2022 hat der Sachverständigenrat die Bedeutung und Stellung von Migrantinnen und Migranten im deutschen Gesundheitssystem untersucht und festgestellt, dass der Bedarf an ausländischen Fachkräften im Gesundheitssektor in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird.

Die Zahlen, die im Jahresgutachten ausführlich aufbereitet werden, sprechen für sich: Bereits jetzt ist etwa jede bzw. jeder sechste Erwerbstätige in den Gesundheits- und Pflegeberufen im Ausland geboren. Mehr als ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte ist selbst zugewandert oder hat zugewanderte Eltern; rund 14 Prozent sind Ausländerinnen und Ausländer. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Syrien und Rumänien. Wie wichtig die hoch qualifizierten Fachkräfte aus dem Ausland sind, zeigt sich zum Beispiel in Ostdeutschland: Hier arbeiten prozentual gesehen besonders viele ausländische Ärztinnen und Ärzte. In den Flächenländern beträgt ihr Anteil an der Ärzteschaft insgesamt 15 Prozent. Er ist damit rund dreimal so hoch wie der Ausländeranteil in der dortigen Bevölkerung. Auch im Klinikbetrieb sind überdurchschnittlich viele Medizinerinnen und Mediziner mit Zuwanderungsgeschichte beschäftigt. Ähnliches gilt für die Gesundheitsversorgung in eher ländlichen Regionen. Aber auch jenseits der akademischen Heilberufe – zum Beispiel in der Alten- und Krankenpflege – zeigt sich: Ohne Migrantinnen und Migranten stünde das System vor dem Kollaps.

In den letzten Jahren sind immer mehr im Ausland ausgebildete Gesundheits- und Pflegefachkräfte nach Deutschland gezogen. Die Zahl der zugewanderten Ausländerinnen und Ausländer, die im Gesundheitswesen arbeiten, hat sich zwischen 2013 und 2019 fast verdoppelt. Zudem gibt es immer mehr Fachkräfte mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren sind und das deutsche Ausbildungssystem durchlaufen haben. Künftig wird ihr Anteil weiter steigen müssen, das erfordert der demografische Wandel. Hier stellt sich die Frage: Sind Deutschland und das hiesige Gesundheitswesen für sie attraktiv genug?

Anerkennung beschleunigen

Angesichts des erheblichen Fachkräftemangels wurden in den letzten Jahren die rechtlichen Möglichkeiten der Einwanderung für Fachkräfte deutlich erweitert. Die Rechtssetzung in Deutschland gilt im Bereich der Fachkräftemigration als eine der liberalsten weltweit. Und dennoch: Der Einstieg in einen Gesundheitsberuf ist an viele Voraussetzungen gebunden. Ausländische Fachkräfte, die einen Gesundheits- oder Pflegeberuf in Deutschland ausüben wollen, brauchen eine Berufsausübungserlaubnis. Dafür müssen sie darlegen, dass ihre Qualifikationen deutschen Standards entsprechen. Der Gesundheitssektor gehört zum Bereich der reglementierten Berufe und wird demnach streng kontrolliert. Das ist richtig und wichtig, schließlich geht es hier um den Schutz von Patientinnen und Patienten.

Entscheidend für den Erfolg von Anwerbestrategien ist deshalb, wie die Anerkennungsverfahren in der Praxis umgesetzt werden und ob erforderliche Nachqualifizierungsmaßnahmen zügig erfolgen können. Hier gibt es, das ist eine zentrale Erkenntnis des Jahresgutachtens 2022, großen Nachbesserungsbedarf. Denn zum einen dauern die Anerkennungsverfahren oft viel zu lange, zum anderen sind sie intransparent und teilweise sehr aufwendig. Da die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Abschlüssen Ländersache ist, gibt es zahlreiche und unterschiedliche Verfahren. Das ist unübersichtlich und trägt nicht zu einheitlichen und effizienten Bescheiden bei. So werden bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen zum Beispiel je nach Bundesland in Bezug auf die Ausbildung verschiedene Rahmenpläne zugrunde gelegt, oft gibt es keine ausreichenden Informationsangebote oder die erteilten Bescheide sind ohne fachkundige Beratung nicht verständlich. Kurz: Die Verwaltungsprozesse sind in Deutschland zu kompliziert, nicht transparent genug, und sie dauern zu lange.

Verwaltung ertüchtigen

Um die Verfahren effizienter zu gestalten, sind keine rechtlichen Reformen nötig, vielmehr sind ein Effizienz- und Transparenzschub bei den administrativen Verfahren und ein besseres Angebot an Nachqualifizierungen notwendig. Die im Jahr 2023 diskutierte Reform der Fachkräfteeinwanderung äußert sich zu diesen Fragen leider nicht. Zuwanderung sollte aber als Gesamtprozess verstanden werden, in dem die einzelnen Schritte wirksam ineinandergreifen und vereinfacht werden. Zudem müssen die am Zuwanderungsprozess beteiligten Behörden im In- und Ausland stärker verzahnt werden – dazu gehören deutsche Konsulate, Ausländer- und Anerkennungsbehörden sowie die Bundesagentur für Arbeit.

Der SVR schlägt zudem vor, in einer zentralen Anerkennungsstelle pro Bundesland Kompetenzen zu bündeln und die Potenziale einer stärker digitalisierten Verwaltung auszuschöpfen. Es braucht auch mehr Flexibilität etwa hinsichtlich Übersetzungen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den am Zuwanderungsprozess beteiligten Behörden. Hier müssen Bund und Länder an einem Strang ziehen. So könnte eine arbeitsteilige Organisation zwischen den Ländern den Aufbau von Expertise etwa in Bezug auf bestimmte Herkunftsländer oder Berufsgruppen erleichtern und die Verfahren beschleunigen. Besonders müssen aber die beteiligten Behörden ertüchtigt werden: Sie brauchen deutlich mehr Personal, damit Anträge schneller bearbeitet werden können. Auch gilt es, passgenaue und erreichbare Maßnahmen zur Nachqualifizierung anzubieten. Nur so können aussichtsreiche Kandidatinnen und Kandidaten schnell und unbürokratisch fehlende Qualifikationen nachliefern und anschließend ihre Arbeit aufnehmen.

Fair rekrutieren

Einwanderung in den Gesundheitssektor ist kein deutsches oder europäisches Phänomen: In den OECD-Staaten insgesamt sind rund ein Viertel aller Ärztinnen und Ärzte und rund ein Sechstel der Pflegekräfte nicht in dem Land geboren, in dem sie aktuell arbeiten. Mobile Fachkräfte erzielen im Ausland oft ein höheres Einkommen und haben dort bessere Arbeitsbedingungen oder Karriereperspektiven. Die Herkunftsländer können dabei einerseits von Rücküberweisungen profitieren oder, im Fall einer Rückkehr, von dem erworbenen Wissen. Andererseits kann die Abwanderung entsprechender Fachkräfte die gesundheitliche Versorgung und damit die Lebensverhältnisse im Herkunftsland beeinträchtigen.

Deshalb sollte sichergestellt werden, dass neben den Migrantinnen und Migranten beide Länder von der Migration profitieren. Das kann über bilaterale Vereinbarungen, besonders aber auch mithilfe von Ausbildungspartnerschaften gelingen. Zudem sollten Fachkräfte im Gesundheitswesen nur in solchen Ländern aktiv rekrutiert werden, in denen es ein Überangebot gibt. Einige Fachkräfte reisen bereits jetzt schon über staatliche Programme nach Deutschland ein, etwa im Rahmen der sogenannten Global Skills Partnerships der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit(GIZ) oder des Triple-Win-Programms. Hier werden Pflegekräfte im Rahmen von Vereinbarungen mit den Arbeitsverwaltungen der Herkunftsländer angeworben – zurzeit aus Bosnien-Herzegowina, Tunesien, Vietnam und den Philippinen. Dabei werden nicht nur die Interessen der Herkunftsländer berücksichtigt, sondern auch die Fachkräfte können sich sicher sein, dass sie in einem transparenten und sicheren Verfahren vermittelt werden.

Zuwanderung sollte als Gesamtprozess verstanden werden, in dem die einzelnen Schritte wirksam ineinandergreifen und vereinfacht werden.“

– Prof. Dr. Hans Vorländer

Die meisten ausländischen Fachkräfte kommen allerdings nach wie vor über andere Wege in den Gesundheitssektor nach Deutschland: Sie werden direkt von Unternehmen angeworben, kommen über private Vermittlungsagenturen oder organisieren ihre Einreise selbst. Das kann riskant sein – zum Beispiel, wenn Unternehmen oder Fachkräfte an eine unseriös arbeitende Agentur geraten. In Anwerbeprozessen muss deshalb bestmögliche Transparenz sichergestellt und die Anzuwerbenden und Unternehmen müssen vorab umfassend aufgeklärt und bei behördlichen Prozessen unterstützt werden. Das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ kann hier wichtige Dienste leisten. Auch gilt es, frühzeitig Fortbildungsmaßnahmen und vor allem Sprachkurse zu ermöglichen.

Langfristig planen

Gerade im Gesundheitssektor müssen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intensiv einarbeiten – besonders, wenn sie aus dem Ausland kommen. Sie brauchen nicht nur das entsprechende Fachwissen, sondern müssen auch die deutsche Sprache erlernen. Die Arbeit mit Patientinnen und Patienten sowie in multiprofessionellen Teams erfordert schließlich ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit. Das erfordert, dass Zugewanderte nicht nur die medizinische Terminologie, sondern auch die Alltagssprache für den Umgang mit Patienten beherrschen müssen – und zwar in verschiedenen und mitunter herausfordernden Situationen: Sie müssen alte Menschen und Kinder verstehen, weniger und besser Gebildete, Zugezogene und Einheimische, die ausschließlich Dialekt sprechen. Auf fachlicher Ebene sind im Kollegium Behandlungspläne zu besprechen und in Notsituationen schnell und richtig Anweisungen zu geben oder auszuführen. Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen müssen sensibel und umfassend über ihren Gesundheitszustand aufgeklärt und manchmal auch beruhigt oder getröstet werden.

Der betrieblichen Integration von neu zugewanderten Fachkräften kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu – ein Selbstläufer ist sie nicht. Neben den administrativen Herausforderungen im Zusammenhang mit den Anerkennungsverfahren sollten die Angeworbenen auch ihr Wissen und ihre Kompetenzen auf die neue Arbeitsumgebung übertragen, neue Arbeitsabläufe verinnerlichen und die Rollenverteilung zwischen verschiedenen Professionen erlernen können. Das ist besonders schwierig, wenn sich Berufsbilder und Arbeitsabläufe im Herkunftsland deutlich von jenen in Deutschland unterscheiden. In vielen Ländern haben Pflegkräfte eine universitäre Ausbildung absolviert und verrichten zum Teil medizinnahe Tätigkeiten, die in Deutschland dem ärztlichen Personal vorbehalten sind.

„Der betrieblichen Integration von neu zugewanderten Fachkräften kommt besondere Bedeutung zu – ein Selbstläufer ist sie nicht.“

– Prof. Dr. Hans Vorländer

Viele Zugewanderte sind deshalb zunächst verunsichert, fühlen sich herabgesetzt und leiden darunter, dass sie ihre Kompetenzen nicht vollumfänglich anwenden können – und auch die in Deutschland sozialisierten Beschäftigten sind enttäuscht, da die neuen Kolleginnen und Kollegen nicht immer unmittelbar einsetzbar sind. Das kann leicht zu Konflikten führen. Vorgesetzte müssen daher nicht nur die Einarbeitung neuer Kräfte planen und unterstützen, sondern auch das bestehende Team vorbereiten und Konflikten entgegenwirken. Hier haben sich in der Praxis Integrationskonzepte und die Benennung von Vertrauenspersonen bewährt.

Zuwanderung in die Ausbildung fördern

Um den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen langfristig zu sichern, sollte deshalb auch die Zuwanderung in die Ausbildung stärker gefördert werden. Das ist in vielerlei Hinsicht vorteilhaft: Wenn statt voll ausgebildeter Fachkräfte Auszubildende angeworben werden, kann die Gefahr eines Braindrains aus den Herkunftsländern reduziert werden, in Deutschland entfallen die langwierigen Anerkennungsverfahren, die künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben weniger Transferprobleme aufgrund unterschiedlicher Berufsbilder und Ausbildungsinhalte, und schließlich können Zugewanderte etwa durch den Kontakt zu anderen Auszubildenden schneller und besser Deutsch lernen. Das erleichtert die soziale und schließlich auch die betriebliche Integration. Im Bereich der reglementierten Berufe ist das eine besonders wichtige Investition. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes 2020 und auch aktuell im Rahmen der Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung die Einwanderung in die Ausbildung gestärkt hat und weiter stärken möchte.

Eine erfolgreiche Anwerbung in die Ausbildung hat jedoch auch Voraussetzungen: Zum einen muss langfristiger geplant werden. Die Ausbildung in medizinischen Bereichen nimmt in der Regel ein paar Jahre in Anspruch. Gleichzeitig braucht es im Vorfeld eine umfassende und ehrliche Aufklärungsarbeit. Interessierte müssen wissen, worauf sie sich einlassen, und brauchen dementsprechend valide Informationen über Ausbildungsinhalte und das entsprechende Berufsbild, aber auch Einblicke in das Leben und Arbeiten in Deutschland. Nur so können sie realistische Vorstellungen und Erwartungen entwickeln. Das ist wichtig für eine nachhaltige Anwerbung: Ausländische Fachkräfte sollen schließlich nicht nur kommen – sie sollen auch bleiben wollen.

Arbeitsbedingungen verbessern

Zuwanderung allein kann den strukturellen Fachkräftemangel im Gesundheitswesen aber nicht lösen. Um Fachkräfte langfristig zu halten, ist es unabdingbar, die Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern. Die Bezahlung ist hier ein Aspekt; Schichtdienst und Dauereinsätze gehen an die Substanz – nicht umsonst hat der Gesundheitssektor einen der höchsten Krankenstände; zudem haben die Pflegenden oftmals nicht genügend Zeit für eine gute Pflege, da in vielen Einrichtungen chronischer Personalmangel herrscht. Hier ist die ganze Gesellschaft gefragt: Was ist uns ein funktionierendes Gesundheitssystem, zu dem alle Menschen unabhängig von Herkunft, Bildung oder Besitz gleichermaßen Zugang haben, wert? Darauf müssen wir Antworten finden.


Prof. Dr. Hans Vorländer ist seit 2018 Mitglied des Sachverständigenrats und seit 2023 dessen Vorsitzender. Er ist Direktor des 2017 gegründeten Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) sowie des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD) an der TU Dresden. Von 1993 bis 2020 hatte er den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte inne. Er wirkt als Berater in verschiedenen Expertenkommissionen und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft. Zu seinen Arbeitsbereichen zählen Politische Theorie, Konstitutionalismus und Verfassung, Demokratie, Populismus sowie Migration und Integration.


LITERATUR
Systemrelevant: Migration als Stütze und Herausforderung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland

Ein funktionierendes Gesundheitssystem ist maßgeblich für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Im Jahresgutachten 2022 stellt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) fest, dass Fachkräfte mit Zuwanderungsgeschichte einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Gesundheitssystem leisten. Um die Versorgung auch künftig zu gewährleisten, sieht er Nachbesserungsbedarf bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen und der Nachqualifizierung. Prozesse müssen vereinfacht, beteiligte Behörden stärker verzahnt und die Zuwanderung in die Ausbildung mehr gefördert werden. Auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie mahnt der SVR zudem an, die Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern. Um eine chancengleiche und herkunftsunabhängige Gesundheitsversorgung sicherzustellen, gilt es, das Gesundheitswesen diversitätssensibler zu gestalten.

→ SVR 2022: Systemrelevant: Migration als Stütze und Herausforderung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland. Jahresgutachten 2022, Berlin.