SVR begrüßt rechtzeitige GEAS-Anpassung, kritisiert aber zu restriktive und intransparente Umsetzung in nationales Recht
Der Bundestag berät derzeit über zwei Gesetzentwürfe, die das deutsche Recht an die ab Sommer 2026 geltenden Vorgaben des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) anpassen sollen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) begrüßt, dass Deutschland die GEAS-Anpassungen rechtzeitig vornimmt. Kritisch äußert er sich zu den sehr weitreichenden freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung über die Vorgaben des GEAS hinausgeht. Er weist zudem darauf hin, dass mit der Umsetzung erhebliche Herausforderungen für die Behörden in Bund und Ländern sowie für die Verwaltungsgerichte verbunden sind, die zusätzliche Ressourcen erfordern. Die gewählte Form der Rechtsanpassung an die EU-Regeln hat zur Folge, dass das Asylgesetz nur noch ein Torso ist; die Transparenz sollte verbessert werden.
Berlin, 03. November 2025. Anlässlich der parlamentarischen Beratungen zum sogenannten GEAS-Anpassungsgesetz sowie zum GEAS-Anpassungsfolgegesetz appelliert der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) an den Gesetzgeber, das komplexe Regelwerk grund- und menschenrechtskonform sowie möglichst praktikabel umzusetzen. „Mit den GEAS-Anpassungsgesetzen senden Bundesregierung und Bundestag ein wichtiges Signal in die Europäischen Union: Deutschland geht mit gutem Beispiel voran und nimmt Kurs auf ein stärker harmonisiertes und solidarisches Asylsystem. Es stärkt damit den europäischen Rahmen für ein koordiniertes Asylverfahren“, sagt der SVR-Vorsitzende Prof. Winfried Kluth. Der SVR hatte sich bereits in der Vergangenheit mehrfach dafür ausgesprochen, die Reform zügig und konsequent umzusetzen. Zwar enthalte sie zahlreiche Maßnahmen insbesondere im Bereich der Außengrenzen, mit denen die Zahl irregulärer Einreisen verringert und ausreisepflichtige Personen effektiver zurückgeführt werden sollen, welche die Rechte von Schutzsuchenden einschränken. „Solange Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte gewahrt bleiben, sind diese Maßnahmen jedoch legitim“, so Kluth. „Die bessere Verantwortungsteilung durch das neue GEAS begrüßt der SVR. Auch als kleinster gemeinsamer Nenner der EU-Mitgliedstaaten ist dies deutlich besser als eine Rückkehr zu rein nationalen Asylsystemen, die die Schengen-Freizügigkeit weiter schwächen würde.“
Mit den in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfen beschränkt sich die Bundesregierung jedoch nicht darauf, das deutsche Recht an die EU-Vorgaben anzupassen, sondern verfolgt eigenständige Ziele, die nicht zwingender Bestandteil der Umsetzung der GEAS-Reform sind. „Dazu gehören freiheitsbeschränkende und freiheitsentziehende Maßnahmen, die aus unserer Sicht für eine wirksame Umsetzung der GEAS-Reform weder zwingend erforderlich noch förderlich sind“, sagt die stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Birgit Glorius. „Wir appellieren an den Gesetzgeber, hier nicht über das Ziel hinauszuschießen und diese Elemente im parlamentarischen Verfahren genau zu prüfen.“ Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die Unterbringung von Schutzsuchenden in großen Gemeinschaftsunterkünften vor allem in Kombination mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit der betroffenen Personen auswirkt – und damit potenziell auch Risiken bezüglich der inneren Sicherheit Deutschlands birgt, wenn die Personen nicht zurückgeführt werden können und in Deutschland bleiben.
Ein weiteres Augenmerk liegt auf den Bereichen Rechtsschutz und Schutz vulnerabler Gruppen. Positiv hervorzuheben ist hier die Verpflichtung der Länder, in ihren Aufnahmeeinrichtungen künftig geeignete Maßnahmen zu treffen, um den besonderen Bedürfnissen von Frauen, Kindern und weiteren schutzbedürftigen Personen Rechnung zu tragen (§ 44 Abs. 2 AuslG-E). „Damit werden die Rechtspositionen von Personen mit besonderen Bedürfnissen deutlich stärker berücksichtigt als bislang. Es liegt jetzt bei den Ländern, das umzusetzen“, so der SVR-Vorsitzende Kluth. Allerdings können insbesondere die möglichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in bestimmten Einrichtungen (z. B. § 68 AsylG‑E) die Zugangsmöglichkeiten zu unabhängiger Rechtsberatung und effektiven Beschwerdewegen erschweren. „Das Kindeswohl, die Berücksichtigung traumatisierter Personen und der Zugang zu sozialer Unterstützung dürfen nicht eingeschränkt werden, selbst wenn die Verordnungen der EU teilweise Spielräume zur nationalen Ausgestaltung lassen“, sagt Prof. Kluth. Die Einführung restriktiver Instrumente, vor allem der verschiedenen freiheitsbeschränkenden Unterbringungskonstellationen noch vor Inkrafttreten der EU-Regelungen, und die Ausweitung von optionalen Grenzverfahren (§ 18a Abs. 1 AsylG‑E) bergen aus Sicht des SVR verfassungsrechtliche Fragen: „Grundrechte, Schutzstandards und das Diskriminierungsverbot müssen gewahrt bleiben. Hinzu kommt die Frage der praktischen Umsetzbarkeit – Einrichtungen für entsprechende Fallzahlen müssen auch gebaut oder bestehende ertüchtigt und mit mehr Personal betrieben werden“, so Prof. Kluth. Der SVR empfiehlt dem Gesetzgeber daher, die im Vergleich zu den Vorgaben des EU-Rechts strengeren Regeln zurückzunehmen. Zudem sollte er jene Mechanismen stärken, die für eine rechtsstaatliche und grund- und menschenrechtskonforme Umsetzung in nationales Recht sorgen.
Der SVR empfiehlt für das GEAS-Anpassungsgesetz eine gesetzliche Regelung des Grundrechte-Monitorings, das nach der Screening-Verordnung (Art. 10, VO 2024/1356) und nach der Asylverfahrensverordnung (Art. 43 Abs. 4, VO 2024/1348) vorgesehen ist. In diesen neuen Verfahren entscheidet sich etwa, ob Schutzsuchende Zugang zu einem regulären Asylverfahren erhalten. „Ein flächendeckender und unabhängiger Monitoring-Mechanismus, also ein systematisches Kontrollsystem, das die Einhaltung der Grundrechte überwacht, ist besonders wichtig, insbesondere da Rechtsschutz gegen Entscheidungen im Screening-Verfahren ausgeschlossen ist“, so Prof. Kluth. „Hier sollte der Gesetzgeber im parlamentarischen Verfahren dringend nachsteuern. Entsprechende Vorarbeiten waren im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens in der vergangenen Legislaturperiode bereits weit vorangeschritten.“
Mit Blick auf die Umsetzung weist der SVR darauf hin, dass die Behörden sowie die Aufnahme- und Verfahrensinfrastruktur in Bund und Ländern die nötigen Ressourcen benötigen. „Die GEAS-Reform trifft auf eine Asylverwaltung und eine Asylgerichtsbarkeit, die bereits unter erheblicher Last arbeitet. Bis Mitte 2026 und darüber hinaus sollte daher an verbindlichen Implementierungsplänen mit entsprechenden Ressourcen- und Personalzusagen gearbeitet werden, informiert durch systematische und kontinuierliche Evaluierung der optionalen Regelungen und Verfahrensweisen“, so Prof. Glorius. Im Zusammenhang mit der Absicht des Gesetzgebers, Einstufungen sowohl sicherer Drittstaaten als auch sicherer Herkunftsländer zukünftig durch Rechtsverordnung ohne Beteiligung des Bundesrats vorzunehmen (§ 27 und 29b AsylG-E i.S.d. Asylverfahrensverordnung, Art. 64 VO 2024/1348), erinnert der SVR an seinen Vorschlag, beim Bundesverwaltungsgericht eine entsprechende unabhängige Fachstelle zur Beurteilung der Gefahrenlagen in diesen Ländern einzurichten, die entsprechende Grundlagen für die Einschätzung von Gerichten bundesweit zur Verfügung stellt. Damit könnten die Verwaltungsgerichte, die zukünftig nur noch maximal sechs Monate Zeit für erstinstanzliche Verfahren haben, wirksam entlastet werden. Gleichzeitig würde dies die Qualität, die Transparenz und die Einheitlichkeit in der Beurteilung von Gefahrenlagen erhöhen.
Hinsichtlich der gesetzestechnischen Umsetzung der beiden GEAS-Anpassungsgesetze bedauert der SVR, dass die Bundesregierung einen sehr defensiven Umgang mit dem so genannten Normwiederholungsverbot gewählt hat. Es besagt, dass Regelungen in EU-Verordnungen nicht in nationalen Gesetzen wiederholt werden dürfen, um deren Herkunft nicht zu verschleiern – oder mehr noch: ihren Charakter als Unionsrecht transparent zu machen. „Das deutsche Asylgesetz ist jetzt in vielen Bereichen nur noch ein Torso,“ stellt Prof. Kluth fest. In der Folge sind nur noch Spezialisten in der Lage, sich ein vollständiges Bild der Rechtsposition von schutzsuchenden Ausländerinnen und Ausländern zu machen. Das Nebeneinander von unions- und mitgliedstaatlichem Recht erhöht die Herausforderungen für die Verwaltung und sonstige Stellen, die das Recht anwenden müssen oder Schutzsuchende beraten. „Die Bundesregierung stellt selbst in ihrem Gesetzentwurf fest, dass der Europäische Gerichtshof bereits Ausnahmen vom Wiederholungsverbot für rechtmäßig erachtet hat, solange die unmittelbare Geltung der Verordnung nicht verschleiert wird.“ Um die Rechtsklarheit zu erhöhen, empfiehlt der SVR deshalb, zumindest redaktionelle Ergänzungen vorzunehmen – etwa indem beim Verweis auf die einschlägigen EU-Rechtsakte nicht nur deren Nummer genannt wird, sondern auch deren Kurztitel (z.B. „Screening-Verordnung“). Bei der Veröffentlichung des Rechts auf den einschlägigen öffentlich zugänglichen Portalen beim Bundesministerium der Justiz und beim Bundesamt für Justiz sowie beim Bundesanzeiger-Verlag sollte zukünftig zudem von den technischen Möglichkeiten stärker Gebrauch gemacht werden, das unmittelbar geltende EU-Recht auf der Ebene einzelner Paragraphen und Absätze des deutschen Rechts durch URL-Verweise oder „Mouse-Rollover“ direkt zugänglich zu machen. „Es braucht hier dringend mehr Transparenz, andernfalls kann das unionsrechtlich begründete Normwiederholungsverbot ungewollte politische Nebenwirkungen haben – wenn nämlich die Rechtslage auf nationaler Ebene nicht hinreichend nachvollziehbar ist“, so der SVR-Vorsitzende.
Die Presseinformation steht unter diesem Link zum Download zur Verfügung.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Winfried Kluth (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Glorius (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex, Ph.D., Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Hannes Schammann.
