Presseinformation – Sachverständigenrat

Paradigmenwechsel mit Folgen: SVR begrüßt Staatsangehörigkeitsreform, sieht aber unbegrenzte Weitergabe der Staatsangehörigkeit kritisch

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) sieht in der von der Bundesregierung geplanten Weiterentwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts das Potenzial, die Einbürgerungszahlen in Deutschland nachhaltig zu erhöhen. Er begrüßt die Verkürzung der für einen Anspruch auf Einbürgerung erforderlichen Aufenthaltsfristen sowie die Zulassung der Mehrstaatigkeit bei Einbürgerung. Dadurch werden zentrale Einbürgerungshürden beseitigt und dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländern mehr politische Teilhabe in Aussicht gestellt. Gleichzeitig gibt der SVR zu bedenken, dass die unlimitierte Weitergabe doppelter Staatsangehörigkeit demokratiepolitische Fragen aufwirft.

Berlin, 23. November 2023. „Die Staatsangehörigkeit symbolisiert nicht nur Zugehörigkeit und Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft, sondern ist in Deutschland von herausragender Bedeutung für die politische Integration: Da das Wahlrecht zu den Parlamenten an die deutsche Staatsangehörigkeit gekoppelt ist, wird die Teilnahme an Wahlen als den zentralen Verfahren politischer Willensbildung in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländern erst durch die Einbürgerung ermöglicht“, erläutert Prof. Dr. Hans Vorländer, Vorsitzender des SVR.

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht hat sich durch verschiedene Reformen in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert und schrittweise an die Anforderungen eines Einwanderungslandes angepasst. Die Einbürgerungszahlen sind dennoch sehr niedrig, auch im europäischen Vergleich. In den von der Bundesregierung geplanten Änderungen erkennt der SVR eine große Chance, Einbürgerungsbarrieren abzubauen und Anreize zur Integration zu setzen.

Der SVR begrüßt das Kernvorhaben der geplanten Reform, die für einen Anspruch auf Einbürgerung erforderlichen Aufenthaltszeiten bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen von acht auf fünf Jahre zu verkürzen. Die Anpassung der Fristen bei der sogenannten Turbo-Einbürgerung, die bei Vorliegen besonderer Integrationsleistungen nun nach drei statt bisher sechs Jahren möglich werden soll, sieht er jedoch mit Skepsis. „Zu bedenken ist, dass mit der Änderung die Voraussetzungen für eine ‚Turbo-Einbürgerung‘ schneller zu erfüllen sind als die Voraussetzungen für eine Niederlassungserlaubnis, für die im Regelfall ein fünfjähriger Aufenthalt erforderlich ist“, so Prof. Vorländer. Der SVR weist darauf hin, dass eine beschleunigte Einbürgerung bei besonderen Integrationsleistungen nach vier Jahren, wie sie der SVR seit langem empfiehlt, dem Anliegen besser Rechnung tragen würde. So würde die im deutschen Migrationsrecht angelegte Abfolge beibehalten werden, nach der eine befristete Aufenthaltserlaubnis in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis übergeht, auf die schließlich die Einbürgerung folgt. Der SVR merkt außerdem an, dass eine Verkürzung der erforderlichen Voraufenthaltsdauer noch nicht gewährleistet, dass Personen auch rasch eingebürgert werden können. „Viele Einbürgerungsbehörden befinden sich am Rande der Dysfunktionalität, Wartezeiten liegen teils bei zwei Jahren oder mehr“, stellt Prof. Vorländer fest. „Als Signal an die Einzubürgernden wäre es im Zweifel wichtiger, wenn sie bei Vorliegen der Voraussetzungen auch zügig den deutschen Pass erhalten, als Anspruchsfristen auf dem Papier weiter zu reduzieren, die dann durch den Antragsstau wieder aufgefressen werden.“

Mit Blick auf das Einbürgerungskriterium der Lebensunterhaltssicherung empfiehlt der SVR, am Status quo festzuhalten: Der Bezug von Sozialleistungen ist dann kein Einbürgerungshindernis, wenn die betroffene Person die Inanspruchnahme nicht selbst zu vertreten hat. „Diese Regelung hat sich in der Praxis bewährt, während der neue Ausnahmekatalog vulnerable Gruppen von der Anspruchseinbürgerung ausschließen würde und zudem mit deutlichem Prüfungsmehraufwand für die Einbürgerungsbehörden verbunden wäre“, erklärt die Stellvertretende Vorsitzende des SVR, Prof. Dr. Birgit Leyendecker. Weiterhin befürwortet der SVR grundsätzlich, dass das für die Anspruchseinbürgerung geforderte Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes um einen deklamatorischen Zusatz ergänzt wird, der u. a. antisemitisch oder rassistisch motivierte Handlungen explizit als Ausschlussgrund nennt. Er verweist jedoch darauf, dass der Zusatz weitgehend unbestimmte Rechtsbegriffe beinhaltet.

Mit dem Gesetzentwurf verabschiedet sich die Bundesregierung vollständig vom Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit und vollzieht damit einen Paradigmenwechsel. Dass künftig nicht nur Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit qua Geburt automatisch erwerben können, ohne die elterliche Staatsangehörigkeit ablegen zu müssen, sondern auch Zugewanderte eingebürgert werden können, ohne ihre alte Staatsangehörigkeit aufzugeben, ist aus Sicht des SVR außerordentlich zu begrüßen. „Dies trägt der Realität im Einwanderungsland Deutschland Rechnung, in dem Zugewanderte und ihre Kinder heimisch werden und zugehörig sind, während zugleich noch Verbindungen zum Herkunftsland bestehen“, so die Stellvertretende Vorsitzende des SVR, Prof. Leyendecker.

Gleichzeitig weist der SVR darauf hin, dass sich aus einer unlimitierten Akzeptanz von Mehrstaatigkeit über Generationen hinweg grundsätzliche Fragen ergeben: „Die ausländische Staatsangehörigkeit einer in Deutschland eingebürgerten Person kann durch die geplante Änderung entlang des Geburtsortsprinzips zeitlich unbegrenzt an die Nachkommen weitergegeben werden – inklusive der mit der ausländischen Staatsangehörigkeit einhergehenden politischen Beteiligungsrechte. Mit der Reform wird die Gruppe an Personen stark zunehmen, die nicht nur in Deutschland, sondern auch im Herkunftsland der ursprünglich in Deutschland eingebürgerten Person wählen dürfen. Sie können damit über politische Entscheidungen mitbefinden, von denen sie gar nicht betroffen sind“, erläutert Prof. Vorländer. Der SVR kritisiert, dass der vorliegende Gesetzentwurf vollständig ausspart, wie mit dieser demokratiepolitisch schwierigen Folge umgegangen werden soll. „Durch die vorgesehene uneingeschränkte Hinnahme von Mehrstaatigkeit gibt Deutschland jegliche Verhandlungsposition aus der Hand, um wichtige Herkunftsländer beispielsweise zum Abschluss bilateraler Abkommen zur Vermeidung der unbegrenzten Weitergabe der Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes zu veranlassen“, bemängelt Prof. Dr. Winfried Kluth, Mitglied des Sachverständigenrats. Seit Langem hat der SVR dafür votiert, dass die doppelte Staatsangehörigkeit bei Einbürgerung zunächst grundsätzlich akzeptiert, aber die generationenübergreifende Weitergabe limitiert wird. Zur Umsetzung vorgeschlagen hat er das Konzept „Doppelpass mit Generationenschnitt“.

Zudem vermisst der SVR im vorliegenden Gesetzentwurf Neuregelungen zur Verringerung von Staatenlosigkeit. „Die Zahl Staatenloser ist in Deutschland seit 2014 stark gestiegen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Deutschland seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zur Verminderung von Staatenlosigkeit auf Ebene der Gesetzgebung nachkommen kann. Von zentraler Bedeutung ist hier das Staatsangehörigkeitsrecht“, betont Prof. Vorländer. Der SVR empfiehlt einen automatischen ius soli‑Erwerb der Kinder von Staatenlosen unter der Voraussetzung, dass die Eltern über einen rechtmäßigen Voraufenthalt von mindestens fünf Jahren verfügen.

Insgesamt plädiert der SVR dafür, die praktische Umsetzbarkeit bei der Gesetzeserarbeitung mitzudenken. Durch die geplante Reform fallen verschiedene Regelungen weg, die mit zum Teil langwierigen Prüfverfahren für die Behörden einhergehen. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Einbürgerungsanträge durch die Reform ansteigt. „Nur wenn die Einbürgerungsbehörden entsprechend vorbereitet und adäquat ausgestattet werden, kann eine wachsende Zahl an Einbürgerungsanträgen zeitnah bearbeitet werden“, gibt Prof. Vorländer zu bedenken. Der SVR hält deshalb einen hinreichenden Abstand zwischen Verabschiedung und Inkrafttreten des Gesetzes für geboten, damit sich die zuständigen Behörden auf die praktische Umsetzung vorbereiten können.

Das SVR-Positionspapier kann unter diesem Link heruntergeladen werden.

Die Presseinformation steht hier zum Download zur Verfügung.

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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger. Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de